81. Trotz des ganzen Lobs, welches mit der Verhüllung des Gesichts verbunden wurde, wird dies dennoch nicht als Vollkommenheit betrachtet, sondern nur als „Übergang“. Das ist der Ort, von dem aus die Vollkommenheit erreicht wird.
Das bedeutet, dass jede Belohnung für eine Mizva, die für jemanden vorbereitet wurde, nur durch seine Arbeit in der Torah und in guten Taten erworben wird – zur Zeit der Verhüllung des Gesichts, wenn man sich „aus freier Wahl“ damit beschäftigt. Denn dann verspürt der Mensch Kummer infolge der Festigung des Glaubens an den Schöpfer bei der Erfüllung Seines Wunsches. Und jede Belohnung des Menschen wird nur anhand der Leiden gemessen, die er durch die Erfüllung der Torah und der Gebote erduldet, wie es heißt „Gemäß dem Leiden ist die Bezahlung“.
82. Daher ist jeder Mensch verpflichtet, diese „Übergangsphase“ der Verhüllung des Angesichts zu passieren. Und wenn er diese abschließt, wird er der Erkenntnis der klaren Lenkung gewürdigt, das heißt der Offenbarung des Angesichts. Bevor er jedoch der Offenbarung des Angesichts würdig wird, sieht der Mensch zwar die Umkehrseite, es kann aber nicht sein, dass er nicht wenigstens einmal einen Verstoß begeht.
Nicht nur liegt es nicht in seiner Kraft, alle 613 Gebote auszuführen, weil Liebe nicht auf dem Wege von Zwang und Gewalt kommt, sondern er ist auch in den 612 Geboten nicht vollkommen. Denn sogar seine Ehrfurcht ist nicht stetig, wie sie sein sollte.
Das ist die Bedeutung davon, dass der Zahlenwert des Wortes Torah nach der Gematria 611 beträgt (und jede Gematria weist auf die Umkehrseite hin). Mit anderen Worten, sogar 612 Gebote kann der Mensch nicht korrekt ausführen. Das ist die Bedeutung von „Du wirst nicht immer streiten“ („wirst streiten“- nach der gematria 612). Im Endeffekt wird aber der Mensch mit der Offenbarung des Angesichts beehrt.
83. Der erste Grad der Offenbarung des Angesichts, welcher eine absolut klare Erkenntnis der Lenkung durch Belohnung und Strafe darstellt, kommt zum Menschen nur mittels der Erlösung vonseiten des Schöpfers, wenn er mittels einer herrlichen Erkenntnis mit der Einsicht in die Torah beehrt wird und „wie eine sprudelnde Quelle wird“ (Sprüche der Väter 86). Und nachdem der Mensch die Mizwa dank durch eigene Wahl investierter Mühen bereits erfüllt hat, wird er damit beehrt, in jeder Mizwa der Torah den für ihn in der kommenden Welt bestimmten Lohn für die Mizwa zu sehen, und auch den großen Verlust, der im Verstoß eingeschlossen ist.
84. Und obwohl er noch keine Belohnung erhielt, weil es keine Belohnung für eine Mizwa in dieser Welt gibt, reicht dem Menschen diese klare und nicht mehr schwindende Erkenntnis aus, um großen Genuss beim Ausführen einer jeden Mizwa zu empfinden, weil „alles was eingesammelt werden soll dem bereits eingesammelten gleicht“. Nehmen wir uns als Beispiel einen Verkäufer, der einen Vertrag abschließt, bei dem er eine große Summe verdienen wird. Es mag sein, dass er den Gewinn erst nach langer Zeit erhalten wird, aber in jedem Fall, wenn er ohne jeden Hauch von Zweifel sicher ist, dass er den Gewinn zur richtigen Zeit erhalten wird, ist seine Freude so, als hätte er den Gewinn bereits erhalten.
85. Selbstverständlich zeugt eine solche offensichtliche Lenkung dem Menschen, dass er von diesem Moment an mit der Torah und den Geboten mit seinem ganzen Herzen und seiner ganzen Seele verschmelzen wird, und gleichzeitig versuchen wird, sich genauso von Verstößen fern zu halten und sie zu vermeiden, wie er vor Feuer flieht. Und obwohl er noch kein vollendeter Gerechter ist, weil er noch keiner Reue aus Liebe würdig wurde, hilft dem Menschen jedoch die enge Verbindung zur Torah und gute Taten allmählich auch mit der Reue aus Liebe beehrt zu werden, das heißt mit der zweiten Stufe der „Offenbarung des Angesichts“. Dann wird er fähig, alle 613 Gebote in Perfektion auszuführen und wird zu einem vollkommenen Gerechten.
86. Nun klärt sich für uns offensichtlich die Frage hinsichtlich des Schwurs, welchen die Seele ablegen muss, bevor sie in diese Welt kommt: „Sogar wenn die ganze Welt dir sagt, du seist ein Gerechter, verbleibe in deinen Augen ein Sünder“. Wir fragten: wenn die ganze Welt einverstanden ist, dass der Mensch ein Gerechter ist, warum sollte er sich dann für einen Sünder halten, und der ganzen Welt nicht trauen?
Was bedeutet dieses Zeugnis der ganzen Welt: „sogar wenn die ganze Welt sagt“? Weiß der Mensch etwa nicht selbst besser Bescheid als die ganze Welt? Und dann müsste man seinen Schwur so formulieren: „Sogar wenn du selbst weißt, dass du ein Gerechter bist“?
Und schließlich das Komplizierteste: Die Gemara sagt ausdrücklich (Brachot, 61), dass der Mensch in der Seele wissen muss, ob er ein vollendeter Gerechter ist oder nicht. Denn es existieren Verpflichtung und Möglichkeit, wahrlich ein vollendeter Gerechter zu sein.
Mehr als das muss der Mensch selbst diese Wahrheit erlernen und erkennen. Wie lässt man dann die Seele einen Schwur ablegen, in ihren Augen immer sündhaft zu bleiben, und niemals selbst die Wahrheit zu kennen, wenn die Weisen zum Gegenteil verpflichteten?
87. Nichtsdestotrotz sind diese Worte sehr präzise, denn solange der Mensch nicht durch herrliche Erkenntnis einer Einsicht in die Torah würdig wurde, welche für offensichtliche Erkenntnis der Lenkung durch Lohn und Strafe ausreichen würde – wird er sich natürlich nicht in Selbstbetrug begeben und sich für einen Gerechten halten, weil er notwendigerweise fühlt, dass es ihm an den zwei umfassendsten Geboten der Torah mangelt: „Liebe und Ehrfurcht“.
Möge es auch nur darum gehen, einer vollkommenen Ehrfurcht aufgrund großer Angst vor Bestrafung und vor Verlusten wegen des Verstoßes würdig zu werden, wenn „Derjenige, Welcher die Geheimnisse kennt, vom Menschen überzeugt ist, dass er nicht mehr zu seiner Torheit zurückkehren wird“. Der Mensch kann sich das nicht vorstellen, bis er nicht einer vollen, klaren und absoluten Erkenntnis der Lenkung durch Belohnung und Bestrafung würdig wird, das heißt bis er nicht die erste Stufe der Offenbarung des Angesichtes erlangt, die er dank der Einsicht in die Torah verdient. Um nicht von der Liebe zu sprechen, die vollkommen über den Rahmen seiner Möglichkeiten hinaustritt, weil sie vom Verständnis des Herzen abhängt, und keine Anstrengung und Zwang dem Menschen hier helfen werden.
88. Daher lautet der Schwur: “Sogar wenn die ganze Welt dir sagt, du seist ein Gerechter…” Denn diese zwei Gebote- “Liebe und Ehrfurcht”- wurden nur dem Individuum aufgetragen, und kein anderer in der Welt außer ihm selbst kann sie unterscheiden und erkennen. Wenn man daher sieht, dass der Mensch in 611 Geboten vollkommen ist, sagt man sofort, dass er sicherlich auch die Gebote von Liebe und Ehrfurcht hat. Und weil die Natur des Menschen ihn dazu zwingt, der Welt zu glauben, kann er durchaus einem bitteren Fehler verfallen. Daher beschwört man die Seele darum, noch bevor sie in diese Welt kommt: und möge es der Wille des Schöpfers sein, dass es uns helfen würde. Das Individuum ist aber natürlich verpflichtet, selbst zu hinterfragen und in der Seele zu erkennen, ob es ein vollendeter Gerechter sei; darüber sprachen wir oben.
89. Wir verstehen nun auch, was wir zuvor hinterfragten: wie kann man sogar der ersten Stufe der Liebe würdig werden, wenn es keinen Lohn für eine Mizwa in dieser Welt gibt? Nun ist es durchaus klar, dass der Mensch den Lohn für eine Mizwa eigentlich gar nicht in diesem Leben erhalten muss. Denn in dieser Hinsicht präzisierten die Weisen: „Du sollst deine Welt in deinem Leben und dein Ende im nächsten Leben sehen“. Sie weisen darauf hin, dass der Lohn für ein Gebot nicht in dieser Welt, sondern in der kommenden ist.
Um jedoch die zukünftige Belohnung für ein Gebot in der kommenden Welt zu sehen, zu kennen und zu verspüren, muss es der Mensch wirklich noch in diesem Leben absolut genau wissen, das heißt mittels seiner herrlichen Erkenntnis in der Torah. Denn so oder anders wird er dann des Stadiums der abhängigen Liebe gewürdigt, welches der ersten Stufe des Austritts aus der Verhüllung des Angesichts und des Übergangs zur Offenbarung des Angesichts entspricht. Das braucht der Mensch, um die Torah und die Gebote korrekt zu erfüllen, damit „Derjenige, Welcher die Geheimnisse kennt vom Menschen bezeugt, dass er nicht mehr zu seiner Torheit zurückkehren wird“.
90. Von nun an unternimmt der Mensch Anstrengungen im Erfüllen der Torah und der Gebote auf der Stufe bedingter (abhängiger) Liebe. Diese erlangt er dank der Erkenntnis des Lohnes, welcher ihn in der kommenden Welt erwartet, wie es heißt: „Alles was eingesammelt werden soll, gleicht dem bereits eingesammelten“. Dann wird er der zweiten Stufe der Offenbarung des Angesichts gewürdigt. Dies meint die Lenkung der Welt durch den Schöpfer aus Seiner Ewigkeit und Wahrhaftigkeit heraus, das heißt aus der Tatsache, dass Er gut ist und Guten und Schlechten Gutes tut.
In diesem Zustand wird der Mensch bedingungsloser Liebe gewürdigt, wenn seine Sünden zu Verdiensten für ihn werden. Von diesem Moment an wird er als „vollendeter Gerechter“ bezeichnet, weil er die Torah und die Gebote in Liebe und Ehrfurcht erfüllen kann. Und „vollkommen“ heißt er aus dem Grunde, da er nun alle 613 Gebote in Perfektion erlangte.