31. Im „Tikunej Sohar„[1] heißt es über den Vers [2] : „ein Blutsauger hat zwei Töchter, welche sagen: Gib! Gib!“. Blutsauger bedeutet Hölle (Gehinom). Und die Sünder, die in die Fänge der Hölle gelangen, bellen wie Hunde: „Haw – Haw (Hebräisch: Gib! Gib!)“, das heißt, sie wollen den Reichtum beider Welten verschlucken – sowohl dieser als auch der kommenden. „Haw“ bedeutet: „Gib mir den Reichtum dieser Welt“ – die Bitte eines jeden Menschen in unserer Welt. „Haw – Haw“ – gib mir auch noch den Reichtum der kommenden Welt.
Und dennoch ist diese Stufe unvergleichbar viel wichtiger als die erste, denn außer, dass der Mensch das wahre Ausmaß des Willens zu empfangen erfasst, und ihm das ganze erforderliche Material zur Arbeit gegeben ist, führt diese Stufe zu liShma. Wie die Weisen sagten [3]: „Immer soll sich der Mensch mit der Tora und den Geboten lo liShma (für sich/eigennützig) befassen, denn dadurch wird er zu liShma (für den Schöpfer) gelangen.“
Und daher wird diese Stufe, die nach 13 Jahren eintritt, als „Heiligkeit“ (Kedusha) definiert, was der Sinn des Geschriebenen ist: „Eine Magd der Heiligkeit, die ihrer Herrin dient“, das heißt, die heilige Shechina. Das heißt, die Magd führt ihn zur Stufe liShma, und so wird er des Strahlens der Shechina [der oberen Malchut] gewürdigt.
Doch der Mensch ist verpflichtet, alle seine Möglichkeiten auszuschöpfen, um zu liShma zu gelangen; denn wenn er nicht alle seine Bemühungen darauf ausrichtet und, Gott behüte, nicht den Zustand liShma erreichen wird, wird er in die Abfalltonne der „unreinen“ Magd (Shifcha ha tmea) landen, die das Gegenteil der „heiligen“ Magd (Shifcha de Kedusha) ist. Denn die Bestimmung der „unreinen“ Magd ist es, den Menschen zu verwirren, damit er von lo liShma nicht zu liShma kommen kann. Und über diese Magd heißt es, dass sie „den Platz ihrer Herrin erbt“[4], da sie den Menschen nicht ihrer Herrin – der heiligen Shechina – näherkommen lässt.
Und die letzte Stufe dieses Zeitraums [der zweiten Periode] ist es, dass er in leidenschaftliche Liebe zu Gott verfällt, gleich einem Menschen in unserer Welt, der vom leidenschaftlichen Begehren erfasst ist – so sehr, dass das begehrte Objekt in ihm Tag und Nacht brennt, wie es heißt: „Wenn ich mich an Ihn erinnere, so lässt Er mich nicht schlafen.“
Und dann heißt es über ihn: „Ein Baum des Lebens ist ein erfüllter Wunsch[5]„, da die fünf Stufen der Seele der „Baum des Lebens“ sind, mit der Dauer von 500 Jahren, da jede Stufe 100 Jahre beträgt, was den Menschen zum Empfang aller dieser fünf Stufen NaRaNCHaY (Nefesh, Ruach, Neshama, Chaja, Yechida) führt, die in der dritten Periode zutage treten.
32. Die dritte Periode ist die Arbeit in der Tora und den Geboten liShma, das heißt um des Gebens willen, und nicht, um Belohnung zu erhalten. Diese Arbeit reinigt im Menschen den Willen, für sich zu empfangen, und verwandelt ihn in den Wunsch zu geben. Im Maße der Reinigung des Willens zu empfangen wird er würdig und bereit, fünf Teile der Seele zu erhalten, die NaRaNCHaY heißen (Erklärung ab Punkt 42), weil sie sich im Willen zu geben befinden (siehe Punkt 23) und sich nicht in den Körper einkleiden können, solange noch der Wille zu empfangen in ihm herrscht. Dieser [Wille zu empfangen] ist in seiner Form der Form der Seele entgegengesetzt, oder er unterscheidet sich von ihr. Das ist deshalb so, weil die Einkleidung und die Angleichung der Form Hand in Hand gehen.
Und wenn der Mensch würdig wird, gänzlich zum Willen zu geben überzugehen, ohne das kleinste Teil für sich zu empfangen, so erreicht er dadurch die Übereinstimmung der Form mit seinen höheren NaRaNCHaY, die aus ihrer Quelle in der Welt der Unendlichkeit (Ejn Sof) aus dem Zustand eins durch die Welten der reinen ABYA de Kedusha hinabsteigen und sofort zu ihm hinabsteigen und sich in ihn gemäß der Stufe einkleiden.
Die vierte Periode ist die Arbeit nach der Wiederbelebung der Toten; das heißt, wenn der Wille zu empfangen, der bereits vollständig verschwand, da er starb und begraben wurde, erneut in größter und schlimmster Gestalt zum Leben erweckt wird, wie es heißt: „In der Zukunft werden die Toten mit ihren Mängeln wiederbelebt“ (siehe Punkt 28), und dann verwandelt man ihn in das Empfangen um des Gebens willen. Doch es gibt einzelne besondere Persönlichkeiten, denen diese Arbeit noch in ihrem Leben in unserer Welt gegeben wird.
33. Und nun blieb uns nur noch, die sechste Untersuchung zu klären. Wie die Weisen sagten, sind alle Welten, wie die höheren so auch die niederen, zu nichts anderem erschaffen als nur für den Menschen. Und es ist auf den ersten Blick sehr merkwürdig, dass für solch ein unbedeutendes Geschöpf wie den Menschen, der verglichen mit dem ganzen Universum in unserer Welt nichtiger als ein dünnes Haar ist, geschweige denn verglichen mit den höheren spirituellen Welten, der Schöpfer sich bemühen würde, all das für ihn zu erschaffen. Und noch merkwürdiger – wozu braucht der Mensch all diese erhabenen höheren spirituellen Welten?
Und du musst wissen, dass die ganze Freude des Schöpfers am Genuss der von Ihm Erschaffenen nur so groß ist, wie die Geschöpfe Ihn fühlen, dass Er gibt und Er ihnen Genuss schenkt. Dann ist Er erfreut über uns – wie ein Vater, der mit seinem geliebten Sohn spielt, wenn in dem Maße, wie der Sohn die Größe und die Kraft des Vaters fühlt und erkennt, der Vater ihm alle Schätze zeigt, die er für ihn bereitete, und es heißt[6]: „Ist Efraim nicht Mein teurer Sohn? Ist er nicht Mein geliebtes Kind? Denn jedes Mal, wenn Ich beginne, von ihm zu sprechen, erinnere Ich mich seiner lange Zeit. Daher schmerzt Mein Inneres über ihn, Ich werde mich seiner erbarmen“ – so sagte Gott.“
Schaue bei dem Gesagten genau hin, und du wirst jene erhabenen Vergnügungen des Schöpfers mit jenen Vollkommenen erkennen und erfahren können, die dessen würdig wurden, Seine Größe zu fühlen und zu erkennen, nachdem sie all die Wege beschritten, die Er ihnen bereitete, bis sie schließlich zu der Beziehung zwischen dem Vater und dem geliebten Sohn gelangten. Und alles Geschriebene ist für die Erkennenden. Und es ist nicht von Nöten, weiter davon zu sprechen. Es genügt uns nur zu wissen, dass es sich für Ihn für all diese Genüsse und Vergnügungen mit jenen Vollkommenen lohnte, alle Welten, sowohl die höheren als auch die niederen, zu erschaffen, wie uns noch zu enthüllen bevorsteht.
34. Um nun die Geschöpfe vorzubereiten, sie fähig zu machen, eine solch hohe, besondere Stufe zu erreichen, wünschte der Schöpfer dies auf vier Stufen zu tun, von welchen eine in die andere übergeht, und die wie folgt bezeichnet werden: „bewegungslos (domem), pflanzlich (zomeach), tierisch (chaj), sprechend (medaber)“. Dabei spiegeln sie vier Stufen des Willens zu empfangen wider, in welche sich jede der Höheren Welten aufteilt, in der zwar die vierte Stufe (Bchina Dalet) des Willens zu empfangen die hauptsächliche ist, es aber unmöglich ist, sie auf einmal zu enthüllen, sondern nur Kraft der drei ihr vorausgehenden Stufen, die in ihnen allmählich in Erscheinung tritt und sich entwickelt, und dabei der vierten Stufe eine abgeschlossene Form verleiht.
35. Die erste Stufe des Willens zu empfangen wird als bewegungslos (domem) bezeichnet und stellt den Beginn der Enthüllung des Willens zu empfangen in unserer materiellen Welt dar. In ihr gibt es nichts außer der allgemeinen Kraft der Bewegung aller bewegungslosen Arten, aber die Bewegung ihrer Teile ist für das Auge unsichtbar. Denn der Wille zu empfangen gebiert Bedürfnisse, und Bedürfnisse erzeugen Bewegungen, die dazu ausreichen, das Notwendige zu erreichen. Und da der Wille zu empfangen äußerst klein ist, herrscht er nicht gleichzeitig über das Ganze, und seine Macht über die Teile wird auch nicht erkannt.
36. Die zweite, pflanzliche, Stufe des Willens zu empfangen entsteht komplementär zur ersten. Ihre Größe des Willens ist größer als bei Leblosen, und der Wille zu empfangen herrscht in all ihren Teilen (den zugehörigen Geschöpfen). Jeder Teil verfügt über eine eigene Bewegung in Länge und in Breite. Auf der pflanzlichen Stufe werden Reaktionen auf den Sonnenaufgang, Ernährung, Tränkung und Ausscheidung beobachtet. Doch es gibt noch keine Empfindung der individuellen Freiheit eines Jeden.
37. Die nächste Stufe ist die tierische – die dritte Stufe des Willens zu empfangen, dessen Umfang bereits so groß ist, dass er in allen seinen Teilen (dieser Stufe zugehörigen Geschöpfen) die Empfindung der individuellen Freiheit erzeugt, welche ein besonderes Leben jeden Teils darstellt, unterschiedlich von seinesgleichen.
Doch auf dieser Stufe gibt es noch keine Empfindung des Nächsten, das heißt: Es gibt keine Basis, um mit den Leiden des Anderen mitzufühlen oder sich über seinen Erfolg zu freuen.
38. Zusätzlich zu allen vorausgehenden Formen besteht die menschliche Art, die vierte Stufe des Willens zu empfangen. Und sie ist bereits in ihrer abgeschlossenen und vollkommenen Größe, da im Willen zu empfangen dieser Stufe die Empfindung des Nächsten wirkt. Und wenn du absolut genau wissen willst, worin der Unterschied zwischen der dritten Stufe des Willens zu empfangen, der tierischen Stufe, und der vierten Stufe des Willens zu empfangen, der Stufe Mensch, ist, so werde ich dir sagen, dass sie sich genauso verhalten, wie sich ein einzelnes Geschöpf zum ganzen Universum verhält. Denn der Wille zu empfangen der tierischen Stufe, in dem die Empfindung von seinesgleichen fehlt, ist nicht in der Lage, andere Wünsche und Bedürfnisse zu generieren als diejenigen, die durch seine Größe nur in diesem Geschöpf definiert werden.
Im Menschen jedoch, in dem es die Empfindung für den Anderen gibt, entsteht auch das Bedürfnis nach all dem, was der Andere hat, und er wird von Neid erfüllt und danach streben, alles zu besitzen, was die Anderen haben. Und wenn er eine Portion hat, so will er eine doppelte. So multiplizieren sich und wachsen seine Bedürfnisse, bis er schließlich beginnt, alles besitzen zu wollen, was es in der Welt gibt.
39. Und nachdem wir geklärt haben, dass das ganze vom Schöpfer erwünschte Ziel der Erschaffung der Geschöpfe darin besteht, sie mit Genuss zu füllen, damit sie Seine Größe und Wahrheit erkennen würden, und von ihm all jenes Wohl und all jene Genüsse erhalten würden, die er ihnen bereitet hatte. Und im Maße des Gesagten: „Mein teures Kind Efraim, mein geliebter Sohn“, – sehen wird klar, dass sich dieses Ziel nicht auf bewegungslose Körper bezieht: große Himmelskörper, solche wie Erde, Mond, Sonne, ungeachtet ihrer Größe und Strahlung; und nicht auf die pflanzliche und die tierische Stufen, denn wie können sie, ohne über die Empfindung Anderer zu verfügen, sogar solcher, die ihrer Art gleichen, den Schöpfer und Seine Güte fühlen?
Sondern nur die Stufe der Menschen; nachdem in ihnen die Vorbereitung und Basis zur Empfindung anderer ihresgleichen gelegt wurde, empfangen sie im Prozess der Arbeit in der Tora und den Geboten, wenn sie ihren Willen zu empfangen in den Willen zu geben umwandeln und zur Schöpfergleichheit gelangen, alle Stufen, die ihnen in den Höheren Welten bereitet sind, und die als NaRaNCHaY bezeichnet werden. Daraus resultierend werden sie fähig, das Schöpfungsziel zu verwirklichen, denn das Ziel der Schöpfungsabsicht der Erschaffung aller Welten ist nur auf den Menschen ausgerichtet.
40. Und ich weiß, dass dies von den Philosophen überhaupt nicht angenommen wird, und sie sich nicht damit einverstanden geben können, dass ein Mensch, so nichtig in ihren Augen, das Zentrum der ganzen erhabenen Schöpfung sein soll. Und sie gleichen jenem Wurm, der im Radieschen zur Welt kam, in ihm sitzt und denkt, dass die ganze Welt des Schöpfers genauso bitter, lichtlos und klein wie jenes Radieschen sei, in dem er zur Welt kam.
Doch in dem Moment, wenn er die Schale des Radieschens durchbricht und aus dem Radieschen hinausschaut, ist er erstaunt und ruft aus: „Ich glaubte, dass die ganze Welt dem Radieschen gleichen würde, in dem ich zur Welt kam, doch nun sehe ich vor mir die riesige, leuchtende, wundervolle Welt!“
So auch jene, die sich in der Schale ihres Willens zu empfangen befinden, in welcher sie zur Welt kamen, und die nicht versuchten, das besondere Mittel – die Tora und die praktischen Gebote zu empfangen, die fähig sind, diese harte Hülle zu durchbrechen und sie in den Willen zu verwandeln, dem Schöpfer zu geben. Diese beschließen natürlich zwangsweise, sie seien nichtig und leer (wie sie in der Wirklichkeit auch sind), und können sich nicht vorstellen, dass diese ganze riesige Schöpfung nur für sie erschaffen wurde.
Doch wenn sie sich mit der Tora und den Geboten in ihrer ganzen reinen Schönheit beschäftigen würden, um dem Schöpfer zu geben und die Schale des Willens zu empfangen durchbrechen würden, mit welchem sie zur Welt kamen, und den Willen zu geben erhalten würden, so würden sich ihnen augenblicklich die Augen öffnen, und sie würden sowohl sich als auch alle Stufen der Weisheit, der Vernunft und des klaren Wissens sehen und erkennen können – in ihrer ganzen Schönheit und Wonne, die ihnen in den spirituellen Welten bereitet sind, und dann würden sie selbst sagen, was die Weisen sagten: „Ein guter Gast sagt: Alles, was der Gastgeber tat – tat er für mich.“
[1]Neue Tikunim, 97/72
[2]Sprüche, 30/15
[3]Talmud, Moed, Traktat Psachim, 50, Seite 2
[4]Sprüche, Kap. 30; 23
[5]Sprüche, Kap. 13; 12
[6]Jeremia, Kap. 31; 19